Zielorientiertes Handlungskonzept „Nachbarschaftsrat für Flüchtlingsfamilien“
Ab dem 01.01.2024 bzw. 01.04.2024 übernimmt die Fachpool gGmbH in Kooperation mit dem Jugendamt des Landkreises Holzminden die Arbeit, die bisher vom Familienbüro Holzminden durchgeführt wurde. Die Fachpool gGmbH wird entsprechend der Konzepte der Landkreis Holzminden die Nachbarschaftsräte weiterführen. Von daher gelten die bisherigen Konzepte weiter, um die Arbeit erfolgreich zu gestalten. Es wurden 10 Mitarbeiter (überwiegend Pädagogen) zu Familienrat-/Nachbarschaftskoordinatoren ausgebildet. Die theoretische Ausbildung wurde Anfang November abgeschlossen.
Seit 2012 arbeitet das Jugendamt des Landkreises Holzminden sehr erfolgreich mit dem in Neuseeland entwickelten Verfahren Familienrat *1 (family group conference), bei dem nichtprofessionelle (Bürger-)Koordinator*innen das Netzwerk der Familien mobilisieren, um Unterstützung aus dem unmittelbaren Umfeld der Familie zu etablieren *2. Dieses bewährte Verfahren wurde 2016 im Rahmen des Förderprogramms „Gut ankommen in Niedersachsen“ erfolgreich auf Flüchtlingsfamilien übertragen. Weil es, anders als bei den Familienräten, nicht in erster Linie um Mobilisierung von Verwandten und Freunden, sondern um Mobilisierung der künftigen Nachbarschaft der Flüchtlingsfamilie geht, wurde bei der Etablierung dieses Projekts der Begriff „Nachbarschaftsrat“ verwendet. Schwerpunkt bei der Unterstützung der Familien ist die Förderung und Integration der Kinder: Die Eltern sollen in die Lage versetzt werden, ihren Kindern den Kita- bzw. Schulbesuch, die Integration in Vereine, ins Dorf- bzw. Stadtleben sowie die Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Aber auch den Eltern sollen Zeit und Möglichkeiten eingeräumt werden, Sprachkenntnisse zu erlangen, sich in Vereinen und der Kommune zu engagieren und nach Arbeitsmöglichkeiten zu schauen, damit auch sie in den Kommunen „ankommen“. Ein zentrales Anliegen des Projektes ist es, dass die Flüchtlingsfamilien nicht nur Hilfeempfänger („Bittsteller“) sind, sondern dass gemeinsam überlegt wird, was auch die neuen Mitbewohner*innen der Gemeinde zum Gemeindeleben beitragen können.
*1 http://www.stuttgart.de/familienrat
*2 Sie betreuen max. 3 Familien pro Kalenderjahr
Wenn sich die Familien oder die Institutionen an das Familienratsbüro gewandt haben, nehmen die Koordinator*innen zeitnah Kontakt mit den Familien auf und tragen zunächst im Gespräch mit den Familien (mit Unterstützung von Sprachmittler*innen) die Wünsche und Bedürfnisse der Flüchtlingsfamilien zusammen. Dann suchen die Koordinator*innen potentielle Helfer*innen im Wohnumfeld der Familie, um diese für einen Nachbarschaftsrat zu motivieren und einzuladen. Auch Vertreter*innen der Gemeinde (Bürgermeister*innen, Gleichstellungsbeauftragte), Leiter*innen der Kitas, Lehrer*innen, Vertreter*innen von Sport- bzw. anderen Vereinen, werden von den Koordinator*innen angesprochen und zum Nachbarschaftsrat eingeladen. Auch bei der Wahl des Ortes für den Nachbarschaftsrat hilft der/die Koordinator*in der Familie, da den Familien Kenntnisse über geeignete Räumlichkeiten fehlen. Dieses Treffen kann in einem Vereinsheim, im Gemeindesaal einer Kirche, in geeigneten Räumen der Gemeinde/des Dorfes oder der fachpool gGmbH stattfinden.
Anders als beim „normalen“ Familienrat bleibt der/die Koordinator*in auch bei der sogenannten „family only phase“ anwesend. Die Koordinator*innen wurden speziell für Moderation und Gesprächsführung geschult, um auch in Nachbarschaftsräten mit vielen Anwesenden Kontrolle und Übersicht zu behalten. In dieser Phase behält eine Person die Bedürfnisse der Kinder besonders im Blick, damit diese im Plan berücksichtigt werden, auch wenn die Kinder nicht selbst am Nachbarschaftsrat teilnehmen oder ihre Positionen noch nicht selbst vertreten können. Die Ergebnisse der Diskussion werden auf Flipcharts(falls möglich in der Muttersprache der Familie bzw. in deutscher Sprache für alle potentiellen Helfer*innen festgehalten. Alle Anwesenden unterschreiben den Plan, was für alle Beteiligten eine große Verbindlichkeit herstellt.
Ca. 6-8 Wochen nach dem Nachbarschaftsrat findet ein „Folgerat“ statt, zu dem der gleiche Personenkreis eingeladen wird. Im Folgerat wird überprüft, ob der von allen gemeinsam erarbeitete Plan realistisch ist und umgesetzt wird oder ob Veränderungen vorgenommen werden müssen. Nach erfolgreicher Durchführung des „Folgerates“ endet der Auftrag der Koordinator*innen. Schon im Nachbarschaftsrat – spätestens jedoch im Folgerat – sollte festgelegt werden, wer künftig Kontaktperson für die Familie bleibt, so dass bei Problemen zügig reagiert werden kann. Um eine bessere Nachhaltigkeit der Ergebnisse zu erzielen, wird ca. 6 Monate nach den Folgerat die Familie noch einmal kontaktiert, um zu überprüfen ob die Umsetzung des gemeinsam formulierten Plans weiterhin gelebt wird.
Wie bei den Familienräten, werden in der Regel max. 24 Stunden für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung eines Nachbarschaftsrates veranschlagt. Die Erfahrungen der bisherigen Projektlaufzeit bestätigen diesen zeitlichen Aufwand, auch wenn Sprachbarrieren die Kommunikation erschweren. Allerdings müssen bei besonders großen Nachbarschaftsräten mit vielen Teilnehmer*innen zwei Koordinatorinnen gemeinsam den Nachbarschaftsrat vorbereiten und durchführen, weil eine gleichzeitige Moderation und Protokollführung sonst nicht gewährleistet werden kann. Der Projektleitung war es wichtig, dass die Koordinator*innen bei dieser sehr anspruchsvollen Aufgabe nicht überfordert werden. Bestätigt hat sich in der bisherigen Projektlaufzeit auch, dass die
Sprachmittler*innen maximal sechs bis acht Stunden zum Einsatz kommen. Sie erhalten eine Aufwandsentschädigung.
Bei der Auswahl der Familien werden solche mit kleinen Kindern bevorzugt berücksichtigt. Wie oben bereits erwähnt, werden für die Vor- bzw. Nachbereitung und die Durchführung der Nachbarschaftsräte bis zu 24 Stunden veranschlagt, wobei die dabei eingesetzten Koordinator*innen eine Vergütung pro Stunde als Aufwandsentschädigung erhalten. Ein/e Koordinator*in ( Projektleitung ) koordiniert die Fälle vom Familienratsbüro aus. Gleichzeitig betreibt sie Öffentlichkeitsarbeit und steht in engem Kontakt. Für Ihre Tätigkeit erhält sie ebenfalls eine Vergütung. Einmal monatlich treffen sich die Koordinator*innen mit der Projektleitung. Dabei werden Probleme, die bei den Nachbarschaftsräten in Holzminden auftreten besprochen und Ideen für die Weiterentwicklung des Projekts diskutiert.
Die bisher an Nachbarschaftsräten beteiligten Personen schätzen das Projekt überwiegend positiv ein, insbesondere weil es die tatsächlichen Bedürfnisse der Flüchtlingsfamilien in den Mittelpunkt stellt und weil es die zahlreichen „Parallel- und Konkurrenzangebote“ minimiert. Flüchtlingsfamilien berichten, dass sie über den Nachbarschaftsrat tatsächlich ihre Nachbarn kennengelernt haben. Sie haben Vertreter*innen der Kommunen persönlich kennengelernt und haben nun auch den Mut, sich bei Problemen an diese bzw. ihre Nachbarn zu wenden. Fast alle Kinder die es wollten, wurden in örtliche Vereine vermittelt, so dass sie ihrer Freizeit nicht nur mit den Geschwistern, sondern auch mit einheimischen Kindern verbringen. Vielen Kindern konnte ein Kitaplatz oder eine Tagespflegeperson vermittelt werden. Auch für Eltern, insbesondere für Mütter, haben sich Möglichkeiten zur Teilnahme an Sprachkursen, Mitgliedschaft in Vereinen oder Einkaufsmöglichkeiten ergeben, weil Nachbar*innen ihnen Mitfahrgelegenheiten angeboten haben.
Auch die Vertreter*innen der Kommunen bzw. von Vereinen, viele Nachbarn und andere ehrenamtlich Engagierte äußern sich positiv über das Projekt, weil sie häufig erst über den „Nachbarschaftsrat“ ihre Neubürger*innen und Nachbar*innen kennengelernt haben. Auch die Bedürfnisse und Nöte der Familien haben sie auf direktem Weg erfahren und können im Rahmen ihrer Möglichkeiten darauf reagieren.
Aber das Projekt hat auch Probleme offengelegt, die verhindert haben, dass noch mehr Familien Hilfe in Anspruch nehmen konnten. In der Regel viel zu spät erhielt das Familienratsbüro Kenntnis von Flüchtlingsfamilien, wenn sie dezentral untergebracht wurden. Die mühsame Suche nach (geeigneten) ehrenamtlichen Helfer*innen und Sprachmittler*innen erschwert häufig die Kontaktaufnahme zu den Familien und verzögerte die Vorbereitungen auf den Nachbarschaftsrat. Die Bereitschaft sich ehrenamtlich für Flüchtlinge zu engagieren hat deutlich nachgelassen.
Auch die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingsfamilien ist schwieriger geworden, da sie häufig unrealistische Forderungen stellen, die nicht unbedingt mit der Integration der Familien bzw. ihrer Kinder in die Gesellschaft in Verbindung zu bringen sind. Immer häufiger werden Anträge für Familien gestellt, die nicht wirklich kooperationswillig sind und sich zurückziehen, wenn sie selbst gefordert werden. Besonders häufig kommen Anfragen von Kitas, wenn es Probleme mit der Integration der Kinder bzw. in der Kommunikation der Eltern mit der Kita gibt.
Das Projekt „Nachbarschaftsrat für Flüchtlingsfamilien“ in Holzminden wurde in den vergangenen Jahren an zahlreichen Schulen, in Kitas, am „Runden Tisch Migration“, im Netzwerk „Frühe Hilfen“ sowie in weiteren Institutionen und Arbeitskreisen bekannt gemacht. Trotzdem wird das Projekt noch zu selten angefragt, so dass die Integrationsmöglichkeiten, die das Projekt bietet nicht ausgeschöpft werden. Insgesamt überwiegen jedoch positive Erfahrungen und Rückmeldungen aber auch Anregungen, die dazu motivieren, das Projekt weiterzuentwickeln und als festen Bestandteil der Willkommenskultur im Landkreis Holzminden zu etablieren.
Obwohl in den Jahren 2020/21 aufgrund der Corona-Pandemie weniger Nachbarschaftsräte stattgefunden haben, ist die Nachfrage nach Nachbarschaftsräten weiterhin vorhanden. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine kamen auch von dort Eltern mit Kindern in den Landkreis Holzminden und erhielten das Angebot eines Nachbarschaftsrates. Offenbar ist jedoch der Bedarf nicht so groß, wie bei der Ankunft der Flüchtlinge in den Jahren 2015/16. Die Ukrainischen Flüchtlinge treffen auf ein größeres Netzwerk von Freunden und Verwandten und erhalten mehr staatliche Hilfe. Es wird jedoch damit gerechnet, dass der Bedarf steigt, wenn der Aufenthalt in Deutschland länger dauert und die Integration trotzdem nicht wie gewünscht funktioniert.
Aus privaten bzw. beruflichen Gründen und aufgrund der belastenden Situation durch die Corona-Pandemie haben vier langjährige Koordinator*innen ihre Arbeit im Projekt eingestellt, so dass es im Moment schwierig ist, die Nachfrage abzudecken. Im November 2023 ist aus diesem Grund eine Ausbildung neuer Koordinator*innen vorgesehen. Die Ausbildung wird von der früheren und der jetzigen Leiterin der Familienratsbüros vorbereitet und durchgeführt. Mit neuen Koordinator*innen kann der Bedarf an Nachbarschaftsräten (hoffentlich) wieder besser gedeckt werden
Aus Sicht der Projektkoordination und der Familienratskoordinator*innen sollten vom Land Niedersachsen weiterhin Mittel für derartige Projekte zur Verfügung gestellt werden. Neben den ukrainischen Flüchtlingen kommen auch wieder mehr Flüchtlinge aus arabischen und afrikanischen Ländern, so dass der Bedarf an Beratung und Unterstützung mit großer Wahrscheinlichkeit wieder steigen wird.